Augen zu und nicht mehr durch

Endlich keinen Erwartungen nacheifern und dem Druck durch Familie und Arbeit entfliehen: Unter dem Motto "flach hinlegen" wehrt sich in China eine wachsende Bewegung gegen den wachsenden Leistungsdruck.

Lea Sahay

08.06.21 SZ, Seite 10

 

Wenige Tage, bevor die chinesische Regierung Anfang Juni die Beschränkung auf zwei Kinder pro Famiie aufhebt, zensiert sie zwei Zeichen im Netz. Tang Ping, auf Deutsch "sich flach hinlegen". Tausendfach wurde der Begriff im Internet geteilt.

Erfinder der Wortschöpfung ist ein seit zwei Jahren arbeitsloser Chinese, der seine Arbeitslosigkeit inzwischen nicht mehr als problematisch ansieht. Anstatt weiter zu versuchen, den Idealen der chinesischen Gesellschaft, dem Leitungsdruck und den Erwartungen  anderer gerecht zu werden, habe er sich zum "Flachhinlegen" entschieden. Nur dadurch könnten Menschen das Maß aller Dinge werden.

Schnell gründeten sich entsprechende Gruppen in den sozialen Medien. Ihre Philosophie: Geld solle nicht mehr mit Glück gleichgesetzt werden; auch solle nicht mehr versucht werden, Fehler durch ständige Selbstoptimierung zu vermeiden. Viele "Flachhinleger" betonten auch, nicht mehr so viel arbeiten zu wollen. Einige verstehen ihre Haltung auch als Kritik am Dauerkonsum.

Die Vorstellung der chinesischen Regierung, dass Familien nun sogar drei Kinder kriegen sollen, hat wenig mit der realen Lebenswelt der meisten jungen Menschen im Land zu tun. In einer Umfrage der staatlichen Nachrichtenagentur Xinhua nach der gewünschten Kinderzahl antworteten innerhalb kurzer Zeit über 30000 Teilnehmer, von denen 90% erklärten, "niemals daran zu denken", weitere Kinder zu bekommen. Kurz darauf wurde die Umfrage gelöscht.

Tang Ping ist also die Antwort vieler Menschen, einer zunehmend desillusionierten jungen Generation und Mittelschicht, die sich mit immer weiter steigenden Lebenshaltungskosten und Wohnungspreisen konfrontiert sieht, während die Löhne längst stagnieren.

996 nennen sich die Bürozeiten, wie sie von vielen chinesischen Firmen praktiziert werden: von neun Uhr morgens bis neun Uhr abends an sechs Tagen in der Woche. Von Todesfällen junger Mitarbeiter wurde berichtet. - Und während die Mittelschicht in den Glastürmen bis spät in der Nacht arbeitet, bringen ihnen Lieferboten ihren Kaffee, das Mittag- und Abendessen bis ins Büro. Viele von ihnen sind Wanderarbeiter, 20 bis 30 Jahre alt. Permanent werden sie überwacht: Kam die Lieferung rechtzeitig an? Wie viele Lieferungen wurden heute ausgeliefert? Geht da nicht mehr? Viele ältere Wanderarbeiter haben die Metropolen längst verlassen, weil sie sich das Leben dort nicht mehr leisten können.

Für die chinesische Regierung ist die Debatte ein Problem. Denn durch die demografische Notlage wird die Zahl an Arbeitern im Land noch weiter sinken. Der Beitrag vom ersten "Flachlieger" Chinas wurde bereits gelöscht. In vielen Netzwerken der Begriff Tang Ping inzwischen auch.

 

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