Staatsgeheimnis

Die Welt hustet und fiebert, nur China ist es gelungen, das Coronavirus zu besiegen - mit dieser Botschaft feiert sich die Führung der Volksrepublik gern selbst. Aber haben in Wahrheit bis zu 70 Millionen Chinesen ihre Jobs verloren

Christoph Giesen

27.06.20 SZ, Seite 30

 

Auf einer staubigen Ausfallstraße im Pekinger Vorort Shunyi pulsiert frühmorgens um 4h das Leben. Die Straße wird auch 'Arbeitsmarkt' genannt, da von hier Wanderarbeiter in übervollen Kleinbussen zu ihren jeweiligen neuen Arbeitsstellen gefahren werden. Erst im Bus erfahren sie, um welche Arbeiten es sich diesmal handeln wird. Männer erhalten für acht Stunden Arbeit 150 Yuan (ca. 19 Euro) und eine warme Mahlzeit, Frau 10 Yuan weniger.

Die Corona-Krise hat den chinesischen Arbeitsmarkt voll erfasst. Im ersten Quartal ist das Bruttoinlandsprodukt um 6,8 Prozent zusammengeschnurrt. Es ist der erste negative Quartalswert seit 1992; und ein ganzes Jahr ohne Wachstum gab es in der Volksrepublik zuletzt 1976, als Mao starb.

Offiziell liegt die Arbeitslosenquote zur Zeit bei 6%. China hat eine nationale Statistikbehörde; doch die Zahlen sind mit Vorsicht zu genießen, da viele Statistiken überhaupt nicht geführt werden oder klammheimlich wieder verschwinden.

Da ist zum Beispiel der Gini-Koeffizient, der viel über einen Staat aussagt (ein Wert von 0 bedeutet die totale wirtschaftliche Gleichheit aller Bürger; ein Wert von 1 besagt, dass alles einem Bürger gehört. Die skandinavischen Länder rangieren bei 0,25, Deutschland bei 0,3 und die USA bei 0,45. - Ein Koeffizient von 0,4 ist laut UN ein Warnsignal und ab 0,6 könnte eine Revolution drohen). China veröffentlichte den Wert zuletzt 2000. Zwölf Jahre später ließ ein Professor aus Chengdu seine Studenten ausschwärmen und 40.000 Haushalte genau befragen. Das Ergebnis mit einem Koeffizienten von 0,61 sorgte für Aufregung und für eine amtliche Korrektur.

Ähnlich 'genau' ist die Arbeitslosenstatistik. In der Regel wurde nur erfasst, wer in den Städten lebt und Sozialabgaben zahlt. Die fast 300 Millionen Wanderarbeiter wurden dementsprechend nicht erfasst. Seit 2 Jahren werden die Wanderarbeiter in den Städten miterfasst; aber alle, die keine Arbeit finden und wieder zu ihren Familien aufs Land zurückkehren, fallen durch die Maschen der Statistik. - Ende April veröffentlichten Ökonomen eines chinesischen Wertpapierhändlers eine Studie, nach der möglicherweise 70 Millionen Chinesen ihre Arbeit verloren haben könnten. Das sorgte für Unruhe und noch am selben Tag zum Verschwinden des Berichtes.

Ende Mai tagte der nationale Volkskongress. Die Regierung präsentierte sich selbstbewußt. Und erwähnt wurde auch, dass man vor großen Herausforderungen stehen würde.  Aber der Premierminister Li verkündete seine Idee, dass Menschen, die ihre Arbeit verloren hätten, doch z. B. einen Straßenstand eröffnen sollten. Die Händler und kleinen Geschäfte seien "das Feuerwerk der Welt, Chinas Lebenselixier. Sie sind genauso wichtig, wie alle anderen Unternehmen. Wir werden Euch unterstützen!"

Diese Empfehlung wurde von vielen Menschen nach verlorener Arbeit aufgegriffen und umgesetzt. Aber schon innerhalb der ersten Tage wurden sie vertrieben und ihre Waren teilweise konfisziert, da Straßenhändler in Städten der ersten Kategorie wie Peking, Shanghei, Shenzen oder Guangzhou nichts zu suchen hätten.

 

 

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